Karl Günther Hufnagel

 

 

 

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Die Welt, 2.6.1962

Extreme Erfahrungen, extreme Geschichten.
Worte über Straßen
von Wolfgang Ignée

(...)
Hufnagel ist, wenn nicht alles täuscht und wenn diese Bemerkung nicht als ein gesichertes Etikett genommen wird, einer der ersten Vertreter des Nouveau Roman in Deutschland. Diesen Eindruck erweckte schon die "Parasiten-Provinz", ihn bestätigen diese Erzählungen, die wie Kapitel aus dem Roman wirken.
Hier wie dort eine fast beängstigende "Entmenschlichung" der Erzählersphäre, die Figuren, falls sie überhaupt noch miteinander kommunizieren, sind auf das Ja und Nein und das Woher und Wohin eines gespenstisch einsilbigen und lakonischen Dialogs reduziert. Sie ragen wie Baumstümpfe aus einer vom Kahlschlag heimgesuchten literarischen Landschaft.
Die Hälfte der fünfzehn Geschichten haben Schulkinder und Jugendliche mit sehr viel Flaum auf der Oberlippe als "Helden", spielen also in einem Bezirk, in dem unentwegt gehandelt, wenig reflektiert wird, Aktion in Aktion übergeht. Robbe-Grillet schildert irgendwo den endlosen Marsch dreier Kinder entlang eines endlosen Meeresstrandes - eine ganz und gar nicht zufällige Übereinstimmung.
(...) Der Nouveau Roman der Franzosen würde nicht ernstlich, auch nicht für ein Weilchen, auf uns rechnen können, wenn er die Vertreibung des Menschen, den Verlust der Fabel nicht irgendwie zu kompensieren wüsste. Hufnagel würde keine Schonung verdienen, wenn er uns nicht entschädigte für die Langeweile und den Mißmut, die uns auf mancher seiner Seiten befallen. Er verlagert seine erzählerische Energie auf die Deskription der Außenfläche der Ereignisse und der Objekte - und siehe, das gibt neue Ansichten. Er wütet im Detail, in der Beschwörung von Baumalleeen, Straßenzügen ("Worte über Straßen"), Häuserfluchten, Bretterzäunen, Warenhäusern - und siehe, man folgt ihm erstaunt. Zuweilen hadert man ob soviel Starrsinns und Verbissenheit eines Autors, dem Leser das Denken und die Bereitschaft zu kombinatorischer Mitarbeit zu verwehren, aber: dann sitzt man plötzlich wieder in einem Gestrüpp fast bewegungsphysiologischer Abfolgen und lässt sichs wohlsein.
Der Laborcharakter solcher Prosa ist evident. Sie spiegelt die moderne Erkenntnis von der Umkehrbarkeit aller psychologischen Motivation, die Unsicherheit in der Fixierung abschließender Urteile und "Aussagen", das Standort- und Perspektivenbewußtsein von heute. Extreme Erfahrungen lassen eine extreme Haltung entstehen. Wo sie uns schließlich hinführt, weiß niemand zu sagen.





Süddeutsche Zeitung, 14./15. April 1962

Kunst der Erzählung. "Worte über Straßen"
von Karl Krolow

(...)
Der Typus der Kurzgeschichte beherrscht den Band der Erzählungen. Hufnagel hat eine entschiedene Neigung zum Knappen, Lakonischen, das bis an die Grenzen einer gewissen Verbissenheit geht. Die Geschichten sind forsch und unzimperlich angepackt. Sie geben Auskünfte. Mehr nicht. Vollkommen unambitiös wie sie sind, wirkt diese Haltung doch ein wenig gezwungen, wenn man mehrere Beispiele dieser Art nacheinander liest. Es liegt eine deutliche Erzählermethodik darin. Hufnagel ist ein glänzender Darsteller ganz kurzer Begebenheiten: ein Tag in den Winterferien, eine flüchtige Bekanntschaft im Stadtbad. Ganz karge und beiläufig "gezielte" Unterhaltungen, Gespräche. Das hat Attraktion, etwas Federndes, Sprödes, Zupackendes, gelegentlich eine leichte Arroganz des Unbeteiligtseins.
Aber die Genauigkeit, die Freude am Detail, am peniblen Wiedergeben der Kette von Einzelheiten zeigen überall die große, erzählerische Begabung, die nicht "erfinden" braucht, um in Gang gesetzt zu werden, sich vielmehr unaufhörlich durch das "Notieren" von Geschehen ausgewiesen sieht. Dennoch ist Hufnagels Prosa nicht von ungefähr "erlebt" und aufgelesen, sondern eine sehr bewußte und durchkalkulierte Kunstübung. Die Sätze kommen haargenau, schnell, scharf herausgeschossen und genau aufs Ziel gerichtet, das sie erreichen wollen und auch erreichen. Am Ende wendet sich der Autor mit kurzer Bewegung ab. Das hat, wie die Wortkargheit, die Ungesprächigkeit, eine gewisse Manier. Doch paßt sie andererseits durchaus zum Klima dieser eher kalten als bewegten Sprache, die vom Verfasser an die Kandare genommen wird, die er zusammenstreicht zu einem Bündel fest anliegender, knapper Beobachtungen. Wenn Hufnagel eine Leidenschaft hat, so ist es die Leidenschaft zum Registrieren. Diesem Blick entgeht nichts: keine Bewegung, keine Geste, keine atmosphärische Veränderung. Hier ist eine sehr angespannte Sensibilität am Werk, die ein hohes Maß Selbstbewußtsein mitbringt. Die komprimierte Prosa, die Hufnagel entstehen ließ, wirkt da, wo sie am besten gelingt, wie ein Exempel auf die geballte Aussagekraft der short story.